Seit dem 7. Oktober gibt es eine Welle von Boykotten gegen israelische Wissenschaftler und Universitäten. Wie stark betrifft Sie das an der Tel-Aviv-Universität?
Ariel Porat: Es ist eine große Bedrohung. Wir sind auf die Zusammenarbeit mit Forschern in aller Welt angewiesen. Lassen Sie mich aber zunächst sagen, dass der Boykott an sich für uns nichts Neues ist. Es hat auch schon vor dem 7. Oktober Boykotte gegeben. Beispielsweise wurden israelische Wissenschaftler nicht zu Konferenzen eingeladen, oder ihre Publikationen wurden von Zeitschriften übergangen, oder es wurde versucht, sie aus Gremien zu entfernen. Die größte Veränderung ist der Umfang. Zum ersten Mal sind es ganze Universitäten, die Israels akademische Welt boykottieren. Zugleich erleben wir aber auch, wie viele Freunde die Tel-Aviv-Universität bei Hochschulleitungen in aller Welt hat, in den Vereinigten Staaten, Deutschland und anderswo, bis hin zu den vielen Gelehrten und Forschern, die ihre Zusammenarbeit mit uns gerade jetzt vertiefen wollen.
Woher kommen die boykottierenden Universitäten?
Porat: Die meisten von ihnen, etwa zehn bis zwanzig, sind aus Europa, einige wenige aus Lateinamerika. In einigen europäischen Ländern bemüht sich ein großer Teil der akademischen Welt darum, die israelische Wissenschaft zu isolieren, etwa in Spanien, Norwegen und Belgien. In Spanien haben alle Universitäten beschlossen, die Verbindungen zu israelischen Hochschulen zu kappen, wenn sie nicht nachweisen, dass sie Frieden wollen. Dahinter steht die Annahme, wir seien für die Taten der israelischen Regierung verantwortlich. Wir sollen beweisen, dass wir „unschuldig“ sind. Aber selbst wenn wir das getan haben, hat das an der Haltung der meisten Universitäten nichts geändert.
Überrascht es Sie, dass aus den Vereinigten Staaten, wo die antiisraelischen Demonstrationen am stärken waren, kein institutioneller Boykott kommt?
Porat: In vielen amerikanischen Bundesstaaten sind akademische Boykotte gesetzlich verboten. Es gab nur ein Universitätscollege, dessen Präsident sofort gefeuert wurde, nachdem er einen Boykott beschlossen hatte. Die größere Rolle spielt hier wohl der individuelle Boykott.
Wie hat man den Boykott Ihnen gegenüber gerechtfertigt, und wie haben Sie darauf reagiert?
Porat: Wir israelischen Universitäten haben gemeinsam einen Brief geschrieben, in dem wir darlegen, wie liberal wir sind, wie stark wir die Minderheitenrechte von Studenten schützen und anderes mehr. Wir haben auch erklärt, dass es zwar Wissenschaftler gibt, deren Arbeit zur nationalen Sicherheit beiträgt – wie in jedem anderen demokratischen Land, was Teil der Wissenschaftsfreiheit ist –, dass wir deshalb aber keine Handlanger der israelischen Streitkräfte sind, wie manche Boykotteure suggerieren. Man behauptet auch, man wolle durch den akademischen Boykott Druck auf die israelische Regierung ausüben. Das ist allerdings lächerlich, denn für die Regierung hat das keine Priorität. Wir sind gegenüber der Regierung kritisch eingestellt, und mancher von uns blickt kritisch auf die Art und Weise, wie der Krieg geführt wird, aber den Vorwurf, die israelischen Streitkräfte begingen Völkermord, weisen wir entschieden zurück. Drittens gab es völlig falsche Behauptungen, etwa dass israelische Universitäten arabische Studenten diskriminieren würden. Wir haben rund siebzehn Prozent arabische Studenten an der Tel-Aviv-Universität. Und es ist nicht nur die reine Zahl. Wir haben Förderprogramme für arabische Studenten, und wir geben ihnen vergleichsweise mehr Stipendien. Wir tun viel, um ihnen das Studium zu erleichtern angesichts der Tatsache, dass die meisten Seminare in Hebräisch, ihrer Zweitsprache, unterrichtet werden.
Hatte der Brief Wirkung?
Porat: Wir bekamen keine Antwort. Wir hoffen, er hat dazu geführt, dass manche Universitäten, die über Boykotte nachgedacht haben, ihre Haltung geändert haben. Es ist aber schwer nachzuweisen.
Milette Shamir: Eine große Hilfe war der Brief der europäischen Forschungskommissarin Iliana Ivanova, die die Boykotte einen Akt der Diskriminierung nannte. Wir nehmen an, dass dies die Universitäten vorsichtiger macht, weil sie nun Strafmaßnahmen der EU riskieren könnten.
In einigen europäischen Ländern wie Frankreich und Belgien gibt es Anstrengungen, Israel aus dem Forschungsrahmenprogramm der Europäischen Union auszuschließen. Befürchten Sie, dass dies geschieht?
Porat: Wir sind sehr enttäuscht über diese Versuche, aber der Brief der EU-Kommissarin stimmt uns in diesem Punkt optimistisch.
Shamir: Größere Sorgen macht uns, dass weltweit die Neigung von Forschern sinkt, mit unseren Wissenschaftlern zu kooperieren, bevor ein Projekt bewilligt ist. Diesen Abkühlungseffekt spüren wir schon.
Wie unterstützen Sie Wissenschaftler und Studenten, die von dem Boykott betroffen sind?
Shamir: Wir schreiben den Institutionen, die für den Boykott verantwortlich sind, Briefe in der Hoffnung, ihre Haltung dadurch zu ändern. Außerdem bieten wir Workshops an, um unsere Studenten und Wissenschaftler auf die Begegnung mit dem Protest und den harten Fragen vorzubereiten, denen sie im Ausland vielleicht begegnen. Viele der ausgesetzten Programme sind Erasmus-Vereinbarungen zum Studentenaustausch. Wir sind sehr froh, dass die deutschen Universitäten unsere Studenten ersatzweise aufgenommen haben, die nicht wie ursprünglich geplant ins Ausland gehen konnten.
Hat der Boykott den Höhepunkt erreicht, und wird er nach dem Ende des Kriegs weitergehen?
Porat: Das ist schwer zu sagen. Jedenfalls wird er nicht völlig verschwinden, da es ihn schon immer gegeben hat. Wir hoffen, dass man in der Zukunft das ganze Bild wahrnehmen wird. Dazu gehört, dass am 7. Oktober 1200 Israelis ermordet, viele vergewaltigt, entführt und gefoltert wurden; und dass wir Zeuge von Ereignissen wurden, die wir niemals seit dem Holocaust erlebt haben. Israel hat einen Krieg gegen die Hamas begonnen, nicht gegen das palästinensische Volk. Es ist kein Racheakt, sondern ein Kampf um unsere Existenz. Es ist eine riesige Tragödie. Wir sind sehr besorgt über das, was den unbeteiligten Bürgern in Gaza geschieht.
Shamir: Zwei Dinge machen es schwierig, zum Status quo zurückzukehren. Das eine ist die Generation von Studenten, die jetzt mit den propalästinensischen Protesten heranwächst, besonders in den Vereinigten Staaten. Sie werden in Zukunft wichtige Positionen einnehmen. Außerdem hat die Boykottbewegung bestimmte antiisraelische und antijüdische Sichtweisen in Umlauf gebracht, die zuvor aufgestaut waren. Es wird schwer, das wieder in die Flasche zurückzubekommen.
Wie hat der Krieg die Stellung der Universitäten im Land verändert?
Porat: Der Druck der Regierung auf die Universitäten ist deutlich gestiegen. Zum Teil, weil viele der Regierungskritiker aus der akademischen Welt kommen. Vor wenigen Wochen hat die Koalition ein Gesetz auf den Weg gebracht, das dem Bildungsminister erlauben würde, Universitäten dazu zu zwingen, Professoren für bestimmte Äußerungen zu feuern. Oberflächlich scheint das sinnvoll zu sein, weil diejenigen, die entlassen werden sollen, theoretisch Professoren sind, die zum Terror aufgestachelt oder Terrororganisationen unterstützt haben. Aber die Definition ist sehr schwammig, und außerdem ist es in Israel noch nie passiert, dass ein Professor zum Terror aufgerufen hat. Das wirft die Frage auf, warum solch ein Gesetz überhaupt vorgeschlagen wird.
Nämlich?
Porat: Die Antwort ist, dass es die Regierung ermächtigt, darüber zu bestimmen, was Anstiftung zum Terrorismus ist. Wenn ein Professor beispielsweise die Kriegsführung der israelischen Streitkräfte kritisieren würde, gäbe es sicherlich einige Leute in der Regierung, die das als Anstiftung zum Terror bezeichnen würden. Und sie hätten die Macht, unsere Budgets zu kürzen, wenn wir ihrer Auslegung des Gesetzes nicht entsprechen. Deshalb betrachten alle israelischen Universitäten, einschließlich der Ariel-Universität, die in den besetzten Gebieten liegt, und der Bar-Ilan-Universität, die als orthodoxe Universität gilt, das Gesetz als große Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit und Hochschulautonomie.
Was können Sie dagegen tun?
Porat: Wenn das Gesetz durchkommt, können wir uns an das Oberste Gericht wenden, um zu erreichen, dass es das Gesetz für verfassungswidrig erklärt. Ich glaube, wir würden uns durchsetzen, aber das könnte länger als ein Jahr dauern, und während dieser Zeit könnten die Folgen katastrophal sein. Nach dem Gesetz könnte die Regierung die Universitäten zwingen, Professoren für Aussagen, die heute durch die Redefreiheit geschützt sind, ohne jede Rechtfertigung zu feuern, durch einen reinen Verwaltungsakt ohne Rechtsverfahren. Selbst ein Mörder oder Vergewaltiger hat in Israel das Recht auf ein Verfahren, bevor er bestraft wird. Es ist auffällig, dass sich das geplante Gesetz speziell gegen Universitätsprofessoren richtet und nicht gegen Angestellte oder Beamte in anderen privaten oder öffentlichen Bereichen. Es zielt darauf ab, Universitäten der Regierung zu unterwerfen.
Glauben Sie, dass es verabschiedet wird?
Porat: Es gibt ein erhebliches Risiko, weil die Initiative von der Koalition ausgeht, die in der Knesset die Mehrheit hat. Das würde das Ende der Unabhängigkeit der Universitäten und der Wissenschaftsfreiheit bedeuten. Niemand würde mehr ein Wort sagen, das politisch kontrovers sein könnte. Für uns ist es ein Kampf um unsere Existenz als autonome und unabhängige Universitäten.
Das Gespräch führte Thomas Thiel.